LESEPROBE

MANIPURA - Das Geheimnis der Seelenjuwelen BAND 1

Tränen im Schnee

Eine dicke Schneeschicht und klirrende Kälte herrschten über die verschneite Landschaft, während der Frost ein eisiges Glitzern auf die Schneedecke zauberte. Verhüllt von einem dicken Umhang und einer schützenden Kapuze, kämpfte sich eine schmächtige Gestalt durch das nächtliche Schneegestöber. Der eisige Wind, gegen den sie sich stemmte, schnitt ihr erbarmungslos ins Gesicht. Endlich erreichte sie ihr Ziel: ein schlichtes Haus am Ende der abgelegenen Ortsrandstraße. Die letzten Schritte bis zur Pforte waren die schwersten. Eine silberne Träne fiel aus dem Schatten der weiten Kapuze und erstarrte noch im Fall zu Eis, während ein ersticktes Wimmern die Stille der Nacht für einen Moment durchbrach. Behutsam kam ein geflochtener Korb unter dem weiten Umhang zum Vorschein. Die verhüllte Gestalt starrte mit wehmütigem Blick auf das Bündel in ihren Händen hinab. Dabei löste sich eine geschwungene kastanienbraune Locke aus dem Schutz der Kapuze und wurde vom schneidenden Nordwind zerpflückt. Ihre aufgesprungenen Lippen hatten durch die klirrende Kälte ein eisiges Blau angenommen. Sanft beugte sie sich in den Flechtkorb hinab und küsste das zappelnde Geschöpf, das darin, von warmen Decken geschützt, verborgen lag. Es war die schwerste Entscheidung, die sie jemals zu treffen hatte. Sie konnte ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit nicht länger zurückhalten. Kaum zu einem klaren Gedanken fähig, stellte sie den Korb vor der Tür des Hauses ab. Sie hatte keine Wahl. Es war die einzige Möglichkeit, um vielleicht ihrer beider Leben zu retten. Ein Schleier aus Tränen vernebelte ihren Blick und ließ alles um sie herum verschwommen und gespenstisch wirken. Zitternd drückte sie auf den verschneiten Klingelknopf an der Wand. Es dauerte eine Weile, bis sich Schritte von innen der Tür näherten. Sie musste verschwinden, bevor man sie erwischte, aber sie wollte nicht, konnte nicht … und dann tat sie es doch. Wie ein Dieb stolperte sie durch die Dunkelheit davon, ohne sich ein letztes Mal umzudrehen.

14 Jahre später…

Seelenjagd

»Schhhhh!« Alex hielt ihr den Mund zu.

»Er ist hier«, flüsterte er mit bebender Stimme, während er versuchte, seine Augen schnellstmöglich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ohne Vorwarnung zerrte er Finn von der Couch herunter, bevor er befahl: »Komm mit und tu genau, was ich dir sage! Wir müssen schleunigst von hier verschwinden!«

»Alex! Was geht hier vor? Was meinst du damit?«

»Sei leise! Wir haben jetzt keine Zeit für lange Erklärungen! Versteck dich hinter dem Sofa, bis ich dich hole und nimm das hier, es wird dir helfen, solltest du angegriffen werden! Ich sehe inzwischen nach, ob er schon hier unten ist!«

»Aber Alex, was-«

»Bleib ruhig und warte hier auf mich, verstanden?«

Alex drückte ihr etwas glattes Kühles in die Hand und ließ sie zitternd in ihrem Versteck zurück. Mit zusammengepressten Lippen und bis zum Hals hämmerndem Herzen tastete er sich in der Dunkelheit zur Tür, während die unheimlichen Geräusche der Zerstörung im Haus immer lauter wurden.

Finn kauerte sich in den Spalt zwischen Couch und Mauerwerk und versuchte herauszufinden, was Alex ihr da gegeben hatte. Allerdings konnte sie kaum die eigene Hand vor Augen erkennen. Hastig steckte sie den mysteriösen Gegenstand in ihre Tasche. Sie befürchtete, das Teil vor Nervosität in der Dunkelheit zu verlieren, wenn sie nicht aufpasste. Die heruntergelassenen Jalousien ließen kaum Licht herein. Finn zog sich weiter hinter das Sofa zurück und hoffte insgeheim, dass alles nur ein komischer Albtraum war, aus dem sie bald erwachen würde. Diego bezog knurrend vor ihrer Couch Stellung, während sie rätselte, wo Alex sich gerade aufhielt. Seine Kleidung raschelte in einiger Entfernung. Ihr stockte der Atem, als sie nur wenige Augenblicke später einen Aufschrei und das Geräusch von splitterndem Holz vernahm. Es folgten berstende Zerstörungsgeräusche und ein ersticktes Ächzen, als würde etwas oder jemand gegen die Kommode im Gang geschleudert werden.

»Alex?« Finn erhielt keine Antwort. Stattdessen wurde Diegos Knurren immer bedrohlicher. Sie schauderte, als sich jähe Stille ausbreitete, in der nur sein bedrohliches Knurren, rasselnder Atem und lautstarkes Schnüffeln zu hören waren. Daneben knarzte der alte Dielenboden schaurig unter dem Gewicht näherkommender Schritte. Finn schnappte nach Luft. Sie hörte das Blut in den Ohren rauschen, während sie spürte, wie sich alle Muskeln ihres Körpers anspannten und sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Diegos Knurren wechselte inzwischen zu wildem, angriffslustigem Gebell. Dumpfe Kampfgeräusche erfüllten mit einem Mal den Raum. Finn hielt die Luft an und hoffte mit jeder Faser ihres Herzens, dass ihrem vierbeinigen Freund nichts zustoßen würde. Doch nach einem jämmerlichen Winsler herrschte plötzlich gespenstische Stille im Zimmer. Sie presste die Hände auf ihren Mund und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken, doch ihr Herz hämmerte, als wollte es sie jeden Moment durch seine lauten Schläge verraten. Mit angezogenen Knien kauerte Finn in ihrem Versteck, bis sie über sich eine Bewegung wahrnahm. Sie stutzte, zu verstört, um zu begreifen. Zwei unheimlich schimmernde Pupillen fixierten sie über den Rand der Sofalehne hinweg. Waren das die Augen eines Dämons? Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas Derartiges gesehen! Panisch versuchte sie sich aus ihrem engen Versteck zu befreien, um dem unheimlichen Geschöpf zu entkommen. Doch sie war für einen Moment vor Angst wie gelähmt. Dann ging alles ganz schnell. Ohne zu begreifen, was geschah, hörte sie ein eigenartiges Zischen. Der Raum wurde schlagartig in flackerndes orangegelbes Licht getaucht, bevor die Dunkelheit jäh zurückkehrte. Finn zögerte nicht lange. Etwas wacklig auf den Beinen befreite sie sich aus dem engen Spalt zwischen Wand und Sofalehne. Vorsichtig spähte sie seitlich hinter ihrem Versteck hervor. In der Dunkelheit konnte sie hier und da einen Schimmer der unheimlichen Augen aufblitzen sehen. Dann schien etwas anderes die Aufmerksamkeit des Eindringlings auf sich zu ziehen. Während sich Finn an der Außenwand Richtung Tür tastete, nahm sie erneut hitzige Kampfgeräusche im Raum wahr. Die Dunkelheit machte es fast unmöglich, mehr als zwei wild miteinander ringende Schemen zu erkennen. Um sie herum zerbarsten Möbel in ihre Einzelteile. In letzter Sekunde brachte sie sich hinter einem Lehnstuhl in Sicherheit, den sie nur als schattenhaften Umriss wahrgenommen hatte. Sie wurde haarscharf von einem Gegenstand verfehlt, der neben ihr an der Wand zerschellte. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie erneut einen Blick riskierte. Es war nicht schwer, die schimmernden Augen des unheimlichen Wesens zu finden, die rastlos den Raum durchsuchten, während es sich gleichzeitig zu verteidigen versuchte. Finn wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass es nach ihr Ausschau hielt.

»Finn! Finn, bist du noch da? Wenn du mich hörst, lauf so schnell du kannst und verschwinde von hier!«

»Alex? Bist du okay?«

Finn überschlug sich fast vor Sorge. Warum hörte sich seine Stimme so anders an als sonst? War er etwa verletzt?

»Mach, dass du von hier verschwindest! Ich versuche, ihn aufzuhalten!«, rief er atemlos. Finn war so froh darüber, ein Lebenszeichen von ihm zu hören, dass sie für einen Augenblick innehielt, um sich nach ihm umzusehen.

»Zum Teufel, was stehst du da noch rum? Hau endlich ab!«, brüllte er und trieb sie damit zur Eile an. Wie benommen stolperte sie aus dem Zimmer. Im Gang türmten sich zerstörte Möbel, über die sie zuerst klettern musste, um sich zur Haustür durchzukämpfen. Doch bevor Finn ihr Ziel erreichte, setzte die Kreatur ihr pfeilschnell nach und räumte die störenden Trümmer mit spielerischer Leichtigkeit aus dem Weg. Finn warf einen gehetzten Blick über die Schulter und sah die glimmenden Augen geradewegs auf sich zu stürzen. In Erwartung des bevorstehenden Angriffs riss sie schützend die Arme vors Gesicht. Dann passierte alles so schnell, dass sie es kaum realisierte. Sie nahm den Hauch einer Bewegung neben sich wahr, bevor sie angerempelt und zu Boden geschleudert wurde. Jemand rollte von ihr herunter, während Finn bemerkte, wie ein riesiger schwarzer Schemen knapp über ihr ins Leere hechtete. Es blieb keine Zeit, um nachzudenken, denn das Wesen setzte erneut zum Angriff an. Überstürzt wurde Finn auf die Beine gezogen und ins gegenüberliegende Eck des Raumes gezerrt.

»Verdammt, mach endlich, dass du von hier wegkommst! Hast du denn immer noch nicht kapiert, dass dieses Ding es auf dich abgesehen hat?«, keuchte Alex mit verzerrter Stimme, während er das Wesen mit einem langen, schmalen Gegenstand mühsam auf Abstand hielt. Finn erkannte in der Dunkelheit nur Umrisse, begriff aber schnell, dass es sich um ein Schwert aus der Replika-Sammlung ihres Vaters handeln musste. Er stellte die Dinger wie Schätze an der Wand seines kleinen Büros zur Schau. Vermutlich hatte Alex ausgerechnet sein neuestes Sammlerstück, ein japanisches Langschwert, erwischt. Leider waren alle Klingen nur dekorative Nachbildungen und aus Sicherheitsgründen ungeschliffen. Daher würde ihnen die Waffe zur Verteidigung wenig bringen. Finn schielte nervös zu Alex hinüber, der sich inzwischen schräg vor ihr positioniert hatte. Er versuchte mit aller Kraft, das Wesen auf Abstand zu halten. Dabei schwang er das Schwert ungeschickt wie einen Prügel. Nach mehreren halbwegs erfolglosen Konterversuchen landete er endlich einen Volltreffer! Finn hörte den markerschütternden Schrei der getroffenen Kreatur, die sich fauchend in eine Ecke des Gangs zurückzog. Selbst ein stumpfes Schwert tat höllisch weh, wenn man es mit voller Wucht übergebraten bekam. Finn sog die Luft ein, als sie ohne Vorwarnung am Handgelenk gepackt und in Richtung Haustür gezerrt wurde.

Ein energisches »LAUF!« war das Einzige, was Alex ihr auf den Weg mitgab, bevor er sie unsanft zur Tür hinaus in die beginnende Dunkelheit schubste und mit aller Kraft versuchte, das scheußliche Wesen im Inneren des Hauses aufzuhalten.

 

Ein stiller Held

 

Zwischen Wahrheit und Lügen

 

Eine verzwickte Vater-Sohn-Geschichte

Alex gähnte und streckte sich einmal herzhaft, bevor er sich erneut dem E-Book auf seinem iPad widmete. Aber er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Die aufwühlenden Neuigkeiten gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Besonders, dass sein Großvater ein Arkana gewesen war und er nun auch einer von ihnen werden sollte, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Alex raufte sich verwirrt durch sein dunkelblondes Haar. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass Arthur gleich in aller Frühe hier im Krankenhaus aufkreuzen würde. Vermutlich hatte er keine Zeit verloren, damit sie sich nicht in noch haarsträubendere Geschichten über den mysteriösen Vorfall verstrickten. Alex musste sich eingestehen, dass seine Version des Zwischenfalls schon etwas übertrieben war. Beschämt schielte er zu Ra hinüber, der am ganzen Körper grün und blau war, während er dagegen vergleichsweise wenig abbekommen hatte. Wie Finn litt Ra an einer Gehirnerschütterung. Ein breiter Verband verhüllte seinen Kopf und an einem Auge leuchtete ein sattes Veilchen. Die meiste Zeit schlief er und die Ärzte hatten ihm strengstens Ruhe verordnet. Da Alex mit ihm das Zimmer teilte, musste er zwangsläufig mitmachen. Zum Glück durfte er das Krankenhaus am späten Nachmittag verlassen. Nervös mit dem Fuß wackelnd, starrte er an die öde weiße Decke. Er musste an Finn denken. Hoffentlich beharrte sie nicht darauf, dass ein Monster an der ganzen Sache schuld war, sobald sie sich erinnerte. Alex seufzte gedankenverloren. Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedankenzirkeln. Er fiel aus allen Wolken, als ausgerechnet Finn scheu durch den Türspalt linste.

»Shit, Finn! Wie siehst du denn aus?«, murmelte er erschrocken. Zerknirscht schlüpfte sie zu ihm ins Zimmer.

»Sorry, Alex. Ich weiß, ich muss ein furchtbarer Anblick sein.« Sie schielte verlegen zu ihm hinüber.

»Ich bin so froh, dass ich dich hier gefunden habe! Als ich gefragt wurde, was gestern passiert ist, hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu. Ihr Blick huschte verstohlen zu Ra hinüber, der tief und fest schlief.

»Ich habe mir echt Sorgen gemacht! Wie geht’s dir?«

»Äh … halb so schlimm. Ich darf heute schon nach Hause«, versuchte er sie zu beruhigen.

»Dich hat es dagegen sauber erwischt! Du würdest gut in eine Geisterbahn passen.« Er verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen.

»Vielen Dank auch! Mach dich nur über mich lustig«, schmollte Finn, während sie spürte, wie ihr heiß wurde. Wieder spähte sie nervös zu Ra.

»Dein Zimmernachbar hat aber auch ganz schön was abgekriegt. Ich habe das Gefühl, ich kenne ihn irgendwoher«, flüsterte sie stirnrunzelnd und rückte näher an Alex’ Bett heran.

»Was ist denn mit ihm passiert?«

Offensichtlich schien sie gar nicht bemerkt zu haben, dass Ra gestern maßgeblich an ihrer Rettung beteiligt gewesen war.

Alex rieb sich verlegen die Stirn.

»Ähm … na ja … Gehirnerschütterung, Prellungen und so«, stammelte er kleinlaut.

»Aha …«

Finn erstarrte plötzlich in der Bewegung. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich für einen Moment Erschrecken und tiefe Abscheu wider, als sie realisierte, woher sie den Jungen kannte.

Alex hielt für einen Augenblick die Luft an. Ihm waren die Vorfälle nicht entgangen, die Ra und Finn wie die rostigen Ketten einer Fessel miteinander verbanden. Er hatte sich schon gewundert, dass sie ihn nicht sofort erkannt hatte. Ras lädiertes Gesicht und die vielen Verbände hatten wohl ihren Teil dazu beigetragen.

»Oh … ich … ich geh dann mal wieder!«

Wie zu erwarten gewesen war, versuchte Finn die Flucht zu ergreifen.

»Hey! Bleib hier! Siehst du nicht? Er ist voll im Arsch und total zerstört. Außerdem schläft er wie ein Baby«, wisperte Alex in gedämpfter Lautstärke und hielt sie am Saum ihres Sweaters zurück. »Wir müssen reden!«

»Und wenn er aufwacht?«, flüsterte Finn aufgewühlt, während sie offenbar nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte.

»Dann kannst du immer noch davonlaufen!«

Seufzend gab sie sich geschlagen.

»Also gut. Kannst du mir sagen, was da gestern passiert ist? Was war das? Du hast sie doch auch gesehen, diese … Kreatur! Oder habe ich mir das alles nur eingebildet?« Sie starrte ihn erwartungsvoll an, als hoffte sie, dass er ihr alles genau erklären würde.

Alex massierte sich seine linke Schläfe und zerbrach sich den Kopf, was momentan das Beste für sie war.

»Genau dieselbe Frage habe ich mir gestern kurzzeitig auch gestellt. Aber«, er holte tief Luft, »all das ist wirklich passiert!«

»Scheiße!«, fluchte Finn leise. »Ich hatte mir so gewünscht, dass das alles nur ein blödes Hirngespinst von mir war. Aber auf der anderen Seite bin ich irgendwie auch erleichtert, dass ich zumindest nicht spinne.« Sie ließ abgespannt die restliche Luft aus ihren Lungen entweichen.

»Sag mal, Alex, hast du eine Ahnung, was das war? Ich hatte den Eindruck, du bist diesem Vieh gestern nicht zum ersten Mal begegnet.«

Alex Miene verfinsterte sich.

»Sorry. Leider weiß ich nicht viel mehr als du, was dieses Monster angeht. Allerdings war es tatsächlich nicht das erste Mal, dass ich dieses Monster gesehen habe«, fügte er schnell hinzu. »Erinnerst du dich noch daran, wie ich sagte, ich hätte dich bewusstlos gefunden?«

Finn nickte angespannt.

»Das Ding muss dich schon auf dem Nachhauseweg abgepasst haben. Ich kam zufällig zur gleichen Zeit von einem Freund und sah, wie du da am Boden lagst. Die Kreatur war direkt über dir. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie konnte ich sie mit Hilfe meines Talismans verscheuchen. Danach habe ich dich so schnell wie möglich nach Hause gebracht und den Rest der Geschichte kennst du ja.«

Inzwischen wirkte Finn fassungslos.

»Warum hast du mir das nicht gestern schon gesagt?« Sie hob die Stimme, beherrschte sich allerdings nach einem kurzen Blick auf Alex’ schlafenden Zimmernachbarn.

»Hey! Du lagst verletzt und total neben der Spur auf der Couch! Du konntest dich an nichts erinnern! Hätte ich dir in diesem Zustand etwa noch eine Monsterstory auftischen sollen? Geglaubt hättest du mir zu dem Zeitpunkt vermutlich eh nicht!«, verteidigte sich Alex. Danach herrschte ein unangenehmes Schweigen im Raum, das keiner der beiden so recht zu durchbrechen wagte. Letztendlich machte Finn den ersten Schritt.

»Na ja … ist inzwischen auch egal. Was sage ich meinen Eltern und den Ärzten, wenn sie fragen, ob ich mich allmählich an den Vorfall erinnere? Bis jetzt habe ich behauptet, ich wüsste nicht, was passiert ist. Aber das kann nicht ewig so gehen. Was hast du denen denn erzählt? Meine Eltern und das Krankenhauspersonal wollten gar nicht erst mit der Wahrheit herausrücken, während Arthur etwas von einem Überfall mit Einbrechern erzählt hat!«

Alex fuhr sich nervös durch sein dunkelblondes Haar, als er zögernd antwortete: »Ich konnte der Polizei und den Sanitätern doch nichts von einem Monster erzählen, sonst hätten die bei mir sicher einen irreparablen Gehirnschaden vermutet! Also dachte ich mir, irgendwas mit Einbrechern hört sich einigermaßen glaubhaft an und passt auch noch zu der Verwüstung in eurem Haus.«

Er schnappte nach Luft, bevor er kleinlaut gestand: »Na ja, vielleicht habe ich es ein bisschen übertrieben …«

Finn verdrehte die Augen.

»Alex! Was für eine Story hast du denen zum Teufel noch mal aufgetischt? Musste das sein? Du schaust zu viele Horrorfilme!« Sie nahm einen tiefen Atemzug und lehnte sich gegen den Schrank im Eingangsbereich.

»Sag mir haargenau, was du der Polizei und meinen Eltern erzählt hast, damit sich unsere Geschichten wenigstens im Ansatz decken.«

Alex merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Die Sache war ihm megapeinlich. Zögernd begann er zu berichten. Immer wieder unterbrach ihn Finn, um ihn über das eine oder andere Detail zu schelten, doch am Ende ertrug sie die Geschichte halbwegs mit Fassung.

»Na ja, das Ganze ist schon ziemlich an den Haaren herbeigezogen, aber ich hätte Schlimmeres erwartet«, gestand sie. Alex wirkte erleichtert.

»Na also!«

Danach entstand ein verlegenes Schweigen zwischen ihnen, während Finn nervös am Saum ihres Pullis herumnestelte.

»Was ist?«, versuchte Alex sie zum Reden zu bringen.

Sie holte tief Luft.

»Hör zu, ich sag dir das nur ein einziges Mal. Bisher dachte ich, du bist ein arroganter Spinner, aber … was du gestern für mich getan hast, war echt cool. Was ich eigentlich sagen will, ist-«

Das abrupte Aufreißen der Tür ließ beide aufschrecken und unterbrach Finn in ihrem hilflosen Gestammel.

»Finn! Da steckst du also! Sofort zurück ins Bett!«, rief die diensthabende Schwester statt einer Begrüßung und durchbohrte das Mädchen mit tadelndem Blick. Ihr Verschwinden war nicht lange unbemerkt geblieben. Es sah Finn ähnlich, dass sie sich ohne eine Erlaubnis aus dem Staub gemacht hatte. Alex schaffte es nicht, sein Grinsen zu unterdrücken. Bevor Finn niedergeschlagen das Weite suchte, zog sie überraschend eine kleine herzförmige Schachtel aus ihrer Sweater-Tasche.

»Hier, als kleines Dankeschön«, murmelte sie mit hochroter Birne, bevor sie die Pralinen auf seinem Seitenschrank zurückließ und durch die Tür huschte. Verwirrt kratzte sich Alex am Kopf. Eine Bewegung im Nebenbett ließ ihn herumfahren.

»Na super! Ich rette ihr den Hintern, geh halb dabei drauf und du kassierst die Lorbeeren dafür! Herzlichen Glückwunsch! Alex der große, edle Held!«, knurrte Ra, während er das Gesicht beleidigt unter seinem Unterarm vergrub.

»Du warst wach? Ich dachte die ganze Zeit über, du würdest schlafen!«, entgegnete Alex.

»Und was, wenn ich nur so getan habe?«, kam es schnippisch vom anderen Bett zurück.

Alex seufzte.

»Was bist du denn jetzt so eingeschnappt? Um ehrlich zu sein, dachte ich, du hasst Finn! Ich verstehe eh nicht, warum du gestern dein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hast! Und überhaupt war es schließlich deine Idee, sie in dem Glauben zu lassen, ich hätte sie vor diesem Viech gerettet, wenn sie selbst nicht drauf kommt, dass es nicht so war! Bist du etwa neidisch auf die Süßigkeiten?«

Er warf die Schachtel unverwandt zu Ra hinüber. Mit einem leisen Plumps landete die Packung auf seiner Bettdecke.

»Hier nimm! Ich steh eh nicht auf das Zeug!«

Sein Friedensangebot schien bei Ra jedoch das Gegenteil zu bewirken.

»Red nicht immer so eine gequirlte Scheiße, wenn du keine Ahnung davon hast, was bei mir los ist! Die Dinger kannst du behalten!«

»Tja, wie sollte ich auch wissen, wie es dir geht?«, konterte Alex zynisch, »Du warst einfach verschwunden – wochenlang! Keiner wusste, wo du so lange gesteckt hast! Und seit deinem mysteriösen Auftauchen bei diesem Angriff warst du auch nicht gerade gesprächig! Was hat deinen plötzlichen Sinneswandel ausgelöst, Finn zu helfen? Ich kann mich lebhaft daran erinnern, dass du ihr vor deinem plötzlichen Verschwinden noch aufgelauert und sie in den schlammigen Schulteich geschubst hast! Oder im April, als du Finns Schirm vor ihren Augen in Kleinteile zerlegt hast, sodass sie durchnässt im Schneeregen nach Hause laufen musste …!«

»Hör endlich auf damit!«, fauchte ihm Ra inzwischen vom anderen Bett entgegen.

»Ach wirklich? Mir fallen da noch eine ganze Menge solcher Geschichten ein! Zum Beispiel der Vorfall mit dem Sprühkleber, den du aus dem Werkunterricht geklaut hast!«

»Mann, halt einfach die Fresse! Ich will den Scheiß nicht hören!«

Ra hielt sich inzwischen mit verzerrter Miene die Ohren zu, doch Alex ließ nicht locker.

»Wieso nicht? Sieh den Tatsachen ins Gesicht! Du hast sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit gedemütigt!«

»Dass ausgerechnet du mich verurteilst! Du, der sich immer nur mit seinen coolen Kumpeln über meine Streiche amüsiert hat! Wenn du mich fragst, bist du keinen Deut besser!« Ras Finger krallten sich in die weiße Bettwäsche. Alex’ Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

»Ich habe dir schon öfter gesagt, du sollst es nicht übertreiben! DU wolltest ja nie hören! Kein Wunder, wenn sie dich bald von der Schule schmeißen!«

»Sagt wer? Unser verwöhnter Schönling, der holde Klassenprinz, Alex McGood, dessen Eltern vor Geld nur so stinken!«

»Das nimmst du zurück, du verdammter Loser!«

Inzwischen hatte sich ihr anfänglich kleiner Streit zu einer handfesten Auseinandersetzung hochgeschaukelt. Ihr Geschrei war laut genug, um eine der Schwestern zu alarmieren.

»Hey, Jungs! Was ist denn hier los?«

»Der Penner beschimpft mich-«

»Ja! Weil der Arsch nicht aufhört, Scheiße zu labern!«

»Aber, aber, beruhigt euch mal wieder! Das hier ist ein Krankenhaus und kein Bolzplatz! Noch ein paar Stunden werdet ihr es wohl gemeinsam aushalten, oder? Dann darf Alex nämlich nach Hause. Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr euch nicht die Köpfe einschlagt, wenn ich gehe?« Die Schwester schielte nervös in den Gang hinaus. Sie schien unter Zeitdruck zu stehen. Nach einer kurzen Schweigepause nickten beide Jungen verkrampft, bevor sie sich demonstrativ voneinander abwandten.

»Okay, ich lass die Tür angelehnt. Wenn ich wieder so einen Ausbruch von euch höre, könnt ihr was erleben!«, mahnte die Schwester und eilte davon. Alex juckte es immer noch in den Fingern, aber er hatte keine Lust, sich so kurz vor seiner Entlassung weiteren Ärger einzuhandeln. Wütend stopfte er sich seine AirPods in die Ohren und drehte die Musik auf volle Lautstärke, während Ra sich in seine Decken einrollte.